Von Felix Erbacher
Basel. Zwar hat sich die Kleiderordnung im Verlauf der letzten hundert Jahre mächtig verändert, aber man nimmt sie heute noch als das wahr, was sie sind und in welcher Branche sie arbeiten: die Bankangestellten, welche die Aeschenvorstadt in Basel frequentieren. Wenn heute vielleicht auch Advokaten oder Treuhänder in den schnittigen Anzügen stecken könnten, so war die Uniform Anfang des letzten Jahrhunderts unzweifelhaft deutbar. Das Bankpersonal zeigte sich in dunklem Anzug, in Hemd mit Stehkragen, setzte sich einen steifen Hut auf, darunter zierte ein gewaltiger Schnurrbart das Gesicht. Das waren Zeichen eines ausgeprägten Standesbewusstseins.
Die Bankangestellten sind sich auch heute noch ihres Standes bewusst, aber ihrer Stelle nicht mehr so sicher wie auch schon. Das war schon mehrmals so, davon zeugt die Geschichte des Berufsverbandes. Wie die Basler Bankenvereinigung (BBVg) ist auch der Schweizerische Bankpersonalverband (SBPV) in diesem Jahr hundertjährig geworden. Zur Gründungszeit Anfang des 20. Jahrhunderts war Basel der bedeutendste Finanzplatz der Schweiz.
Das Gründungsjahr 1918 war ein Horrorjahr, politisch wie wirtschaftlich. Eine schreckliche Grippewelle tobte, sie forderte weltweit 20 bis 25 Millionen Tote, Zehntausende starben auch in der Schweiz. Im vierten Jahr des Ersten Weltkrieges kam es in der Schweiz fast zu einem Bürgerkrieg. Die Arbeiterschaft stand der Bourgeoisie erbittert gegenüber. Als Folge des Weltkrieges stiegen die Preise ins Unerträgliche. Derweil wurden Hungerlöhne bezahlt. Die Lebensmittel wurden knapp. Der Generalstreik war im November unvermeidlich. Auch die Zürcher Bankangestellten legten während zweier Tage die Arbeit nieder.
Ein «Putzfrauen»-Lohn
Unter allen Arbeitnehmern büsste das Bankpersonal mit 30 bis 40 Prozent am meisten Reallohn ein. Diese katastrophalen Verhältnisse zwangen die Bankangestellten geradezu, sich zu organisieren. Es brauchte damals angesichts der mächtigen Bankenchefs einigen Mut, eine Arbeitnehmerorganisation auf die Beine zu stellen.
Die regionalen Hausverbände brauchten dementsprechend einige Zeit, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen. Am 7. April 1918 war es schliesslich so weit: Die Delegiertenversammlung hob den Schweizerischen Bankpersonalverband aus der Taufe. Zum ersten Zentralpräsidenten wählten die Delegierten den St. Galler Rechtsanwalt F. Fuchs. Die 3500 Mitglieder zahlten einen Jahresbeitrag von je drei Franken.
Natürlich kam die leidige Lohnfrage an der Versammlung auf den Tisch: Die Delegierten forderten ein monatliches Mindestgehalt von 200 Franken. Die Zürcher verlangten einen Mindestlohn von 225 Franken mit der Begründung, dass jede Wasch- und Putzfrau der Stadt Zürich so viel verdiene und damit besser gestellt sei als manch fertig ausgebildeter Bankbeamter. Die Zürcher waren zwar im Zentralvorstand vertreten, erklärten sich jedoch mit den Statuten nicht einverstanden. Sie kämpften separat und forderten zusätzlich eine Salärerhöhung von 30 Prozent ab Oktober 1918.
Die Banken weigerten sich, mit den Angestellten auch nur zu verhandeln. So kam es zum Streik. Auf einem der 30 000 Flugblätter war unter anderem zu lesen: «Seit Monaten kämpft der Bankpersonalverband Zürich um bessere Entlöhnung. In Eingaben um Eingaben haben wir unsere Forderungen eingereicht und sind stets von den Bankgewaltigen entweder schnöde abgewiesen oder mit einer absolut ungenügenden Teuerungszulage abgefertigt worden.»
Der Kampfgeist ihrer Untergebenen traf die Banken und die Öffentlichkeit völlig überraschend; sie waren perplex. Unter Einbezug des Zürcher Regierungsrates fanden im Rathaus Marathonsitzungen statt. Als am 1. Oktober 1918 die Gewerkschaften den Generalstreik proklamierten, unterschrieben die Banken die Besoldungsverordnung. Diese teilte sich in 15 Klassen auf, von den «Gehülfinnen» bis zum Direktor. Die Banken zahlten den Schlechtverdienern fortan teilweise mehr als das Doppelte.
In der untersten Klasse zum Beispiel lag das Jahreseinkommen zwischen 2700 und 4800 Franken, in der Klasse zehn (Prokuristen und Kassiere) zwischen 7400 und 10 000 Franken. Die fortschrittliche Ferienordnung beinhaltete mindestens zwei Wochen, höchstens vier Wochen, je nach Klasse und Dienstjahr. Die Sektion Basel des SBPV konnte ebenfalls im Oktober 1918 eine Vereinbarung mit den Basler Banken abschliessen. Der Mindestlohn lag bei 200 Franken monatlich.
Dass der erbitterte Streit mit friedlichen Mitteln gelöst werden konnte, war ein Vorbild für die schweizerische Sozialpartnerschaft. Die Banken taten sich freilich für eine lange Zeit schwer damit, dass ihre «Herr-im-Haus-Politik» beschnitten wurde. Anfang 1922 gehörten dem Verband 5500 Mitglieder aus 13 Sektionen an.
13. Monatslohn gibt es seit 1958
In den folgenden Jahrzehnten hatten die Sozialpartner noch manchen Strauss auszufechten. Nach dem Einbruch der Wall Street 1929 und der nachfolgenden Krise gewährten die Banken 1932 keine Gehaltsaufbesserungen mehr. Die Arbeitslosigkeit stieg, auch die Banken bauten Personal ab. Die Banken senkten die Löhne individuell. Jetzt forderte der Bankenpersonalverband einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV). Den Entwurf lehnten die Banken 1937 rundweg ab.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die wirtschaftliche Lage des Personals in hartnäckigen Verhandlungen Stein um Stein verbessert. Die Anzahl der Gratisüberstunden wurde ab-, die Aus- und Weiterbildung ausgebaut. Weitere Meilensteine bildeten die Arbeitszeitreduktion und die Einführung eines 13. Monatslohnes (1958). Ab 1964 folgte die generelle Fünftagewoche.
Die Lohnfrage spielte auch in den nächsten Jahrzehnten eine wichtige Rolle. Harte Auseinandersetzungen zwischen den Sozialpartnern gab es aber nicht mehr. Der Grund lag vornehmlich in den Personalengpässen der Banken. Sie konnten gar nicht anders, als Angestellte lohnend zu bezahlen. Auf generellen Lohnerhöhungen konnte der SBPV allerdings nicht mehr beharren. Ab 1970 wurde die Hälfte der Entlöhnung individuell gewährt. Heute gibt es überhaupt keine generellen Aufbesserungen mehr.
Zu Beginn der 1990er-Jahre herrschten wieder schwierige Zeiten. Die Immobilienkrise tobte in der Schweiz, eine hartnäckige Rezession kündigte sich an. Nachdem die Banken Kredite locker vergeben hatten und die Preise der Immobilien ins Kraut schossen, platzte die Blase und die Preise brachen ein. Im 75. Jahr seines Bestehens nahm im Geschäftsbericht von 1993 das Kapitel «Schliessungen, Fusionen und Liquidationen der Banken seit 1990» doppelt so viel Platz ein wie der Bericht zur «Delegiertenversammlung 75-Jahr-Jubiläum».
In der Krise gewannen die Arbeitgeber an Macht. Ab Mitte der 1990er-Jahre setzten sie durch, dass die Lohnverhandlungen auf Betriebsebene verlagert wurden. Das ist bis heute so geblieben. In dieser Situation schloss sich der SBPV dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) an und suchte dessen Unterstützung in wichtigen Fragen. Der Verband aber schwächelte weiter. Er verlor Mitglieder und damit Macht.
Der Verband versuchte sich zu modernisieren und damit an Stärke hinzuzugewinnen. Zum Beispiel zentralisierte er das Einfordern der Mitgliederbeiträge und die Mitgliederverwaltung. Im letzten Jahr passte der Verband die Strukturen nochmals an und richtete zwei Sekretariate in Basel und Lugano ein. Und zum 100. Geburtstag zügelte das Zentralsekretariat von Bern nach Zürich, ins Herz der Finanzbranche.
Bankgeheimnis und Steuerstreit
Wenn sich in den ersten 50 Jahren die Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern vornehmlich um Löhne, Arbeitszeit oder Ferien drehten, so kamen in den zweiten 50 Jahren aufgrund der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung neue Problemstellungen hinzu. Die Backoffice-Arbeit wurde computerisiert, Geldautomaten eingeführt, das Online-Banking breitete sich aus.
Die Digitalisierung hinterliess beim Bankpersonal tiefe Spuren. IT-Arbeitsplätze wurden zentralisiert oder wanderten ins Ausland ab. Der Verband und die Banken konnten sich in der Regel auf Sozialpläne einigen.
In der jüngeren Vergangenheit musste sich der SBPV mit den Folgen der Bankenkrise, der Aufgabe des Bankkundengeheimnisses, dem US-Steuerstreit und Restrukturierungen auseinandersetzen.
In den letzten Jahren seien nachhaltige Fortschritte in den Bereichen Flexibilisierung (Einführung der Jahresarbeitszeit, Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung, die Erhöhung des Mindestlohnes, die Einführung des Krankentaggeld-Obligatoriums oder Verbesserungen im Gesundheitsschutz) erzielt worden, sagt Peter-René Wyder, der Präsident des SBPV.
Die Bankbranche kennt seit 1920 eine Vereinbarung über die Anstellungsbedingungen der Bankangestellten (VAB). Dieser VAB ist rechtlich betrachtet ein GAV. Zur Verhandlungsdelegation der Arbeitnehmer gehört auch Hans Furer, Präsident des SPBV Nordwestschweiz, seit 27 Jahren Mitglied des zehnköpfigen Vorstands des nationalen SBPV.
Das Schwinden der Bedeutung des SBPV hat auch damit zu tun, dass sich in diversen Banken eigene Personalverbände gebildet haben, die in personellen Belangen oft näher an der Praxis sind. So hat auch die UBS einen eigenen Hausverband, zu dem der SBPV gemäss Hans Furer einen guten Kontakt pflegt.
In den Personalkommissionen der Banken sitzen zuweilen auch Vertreter des SBPV. Auf nationaler Ebene sei die Kommission für Salär- und Sozialpolitik (KSSP) wichtig. An deren Sitzungen würden namentlich die Personalvertretungen regelmässig eingeladen. Dort würden auch die Lohnansprüche und Forderungen für Änderungen im VAB vorbereitet.
Arbeitsmodelle verändern sich
Der Bankpersonalverband Nordwestschweiz vertritt in der Region 1100 Mitglieder. Die rund 30 Banken der Nordwestschweiz, die in der Basler Bankenvereinigung (BBVg) zusammengeschlossen sind, bieten insgesamt rund 6500 Arbeitsplätze an.
Auf der Arbeitgeberseite verhandelt der Verband Arbeitgeber Banken, dessen Geschäfte der Baselbieter Balz Stückelberger führt. Dieser Verband existiert erst seit 2010. Dessen Gründung will Stückelberger als «ausdrückliches Bekenntnis zu sozialpartnerschaftlichen Lösungen» verstanden wissen. Dieses sei seither in der Strategie der Organisation verankert.
Dessen Präsident, Lukas Gähwiler, sagt denn auch, dass seine Organisation, deren Mitglieder rund 65 000 Personen beschäftigen, einen Paradigmawechsel in der Sozialpartnerschaft anstrebe. Die Arbeitsmodelle veränderten sich in Bezug auf Ort, Zeit und Organisation. «Deshalb muss sich auch die Ausrichtung verändern», sagt er.
Die Arbeitgeber sind der Meinung, dass der VAB in der heutigen Zeit der Herausforderungen nicht mehr das Richtige für die Sozialpartnerschaft sei. Früher hätte man Löhne und Ferien im GAV regeln können. Heute seien die Herausforderungen komplexer. Dies könne man nicht mit ein paar Paragrafen abhandeln. Deshalb suchen die Banken nach neuen Lösungen für die Kooperation mit ihren Angestellten.
Patrick Huber, Geschäftsführer der Basler Bankenvereinigung, bestätigt dies: «Früher waren Arbeits- und Freizeit klar definiert und durch die Bürotüre voneinander getrennt. In Zeiten von flexiblen Arbeitszeiten und Homeoffice benötigt es jedoch modernere Lösungen, als dies ein klassischer GAV abbilden kann.»
Auch Hans Furer ist der Meinung, dass morgen die Regelungen im VAB inhaltlich anders aussehen werden als heute. Ein Tabu für ihn ist jedoch, «nur noch firmeninterne Abmachungen zu treffen und darauf zu vertrauen, dass es keine externen Sozialpartner mehr braucht».
Gegensätzliche Ansichten zwischen Vertretern der Arbeitgebebenden und Vertretern der Arbeitnehmenden seien überaus befruchtend: «Am Schluss haben wir den langweiligen Kompromiss, der in der Schweiz aber ein Erfolgsmodell ist und für Wohlstand für alle sorgt», meint der Vertreter der Bankangestellten.